Captain Phillips (2013)

michi kritik

„Greengrass und Hanks – awardverdächtig!“ – „Bester Film des Jahres!“ – „Ein absolutes Muss im Kino!“ – „Fünf Sterne!“ – „So intensiv wie noch nie zuvor!“
Mag man den Meinungen der Internetlandschaft glauben, kommt es bei den Oscars zu keinen Überraschungen mehr. Doch was kann CAPTAIN PHILLIPS dem Kinozuschauer von heute denn bieten, warum wird dieser Film mit so viel Lob überhäuft? Eine Geschichte über einen Frachter, der von ein paar dürren Afrikanern angegriffen wird. Klingt nicht sehr fesselnd – oder?CAPTAIN PHILLIPS erzählt die wahre Geschichte (ich habe keine Ahnung, wie nah an der Wirklichkeit) von Richard Phillips, dessen Frachter 2009 von somalischen Piraten geentert wurde. Erzählte man mehr, würde man dem Film schon einiges seiner Wirkungskraft entziehen, meiner Meinung nach sollte man sich noch nicht mal einen der längeren Trailer ansehen. Ich hab dies im Vorfeld unwissend getan und kannte dadurch schon unnötigerweise ein oder zwei Punkte der Handlung, konnte mich aber glücklicherweise komplett auf den Film einlassen und ließ mir dadurch nichts verderben. Generell wird schnell klar, dass der Schwerpunkt beziehungsweise auch die große Stärke des Films nicht vom Plot herrührt, sondern dieser lediglich die eigentliche Intention des Films unterstützt.

captain phillips fernglas

Den Oscar für die aufwendigste Geschichte gibt es also nicht, aber vielleicht einen für wunderbar gestaltete Charaktere? Eher nein. Die Figur des Captain Phillips wird sehr knapp als netter Familienvater eingeführt, der sehr diszipliniert und gewissenhaft seiner Arbeit nachgeht. Alle seine Handlungen während des Films sind wohl überlegt und immer mit schlauen Hintergedanken kombiniert. Dadurch ergibt sich das Bild eines sehr logisch denkenden Mannes, mit dem man durchaus Sympathien empfinden kann, aber eine richtig tiefe Charakterzeichnung bleibt leider aus. Was geboten wird, reicht aus, um den Zuschauer bei Laune zu halten und durch den Film zu führen. Ähnlich ist es bei den somalischen Piraten, bei denen es mehr oder weniger vier Stereotype ohne groß erklärte Hintergrundgeschichte gibt. Der Anführer ist hierbei meist der Gegenpol zu Captain Phillips und am meisten im Vordergrund des Geschehens, während die anderen drei genau wie die Dynamik innerhalb der kleinen Gruppe größtenteils sekundär sind, aber eine nette Abwechslung bieten. Alle weiteren Minirollen sind auch kaum mehr als gut funktionierendes Beiwerk.

Genauso sehr, wie man über die fehlenden Charaktertiefe meckern kann, muss man hingegen die schauspielerischen Leistungen loben: Barkhad Abdi spielt (seine überhaupt allererste Rolle als) Piratenanführer Muse und macht seine Sache verdammt gut. Sein spezielles Aussehen und der afrikanische Akzent (bitte, bitte in OmU oder OV gucken!) kreieren schon von selbst eine bestimmte Figur; seine eher zurückhaltende, aber bestimmte Schauspielerei runden die ganze Sache perfekt ab. Auf ähnliche Art spielt auch Tom Hanks die Rolle des Richard Phillips: eher bodenständig, logisch und ohne jegliches Over-Acting. Alles sehr zum Wohle des Films. Allerdings kann keiner der beiden sein volles Potenzial über die ganze Länge des Films ausschöpfen, da der Plot und eben auch die Figuren nicht genug hergeben. Die richtig großen Gefühlsmomente bleiben zunächst aus, obwohl man trotzdem durchgehend emotional in den Film involviert ist.

captain phillips piraten

Die eine richtig große Stärke des Films dagegen ist seine Inszenierung und die dadurch entstehende Spannung. Zu gefühlt 80 Prozent besteht der Film aus Großaufnahmen der Gesichter oder Detailaufnahmen wichtiger Gegenstände. Panorama-Aufnahmen oder Totalen sieht man eigentlich nur, wenn die Schiffe auf der Weite des Meer gezeigt werden. Dies bildet einen netten Kontrast, ohne den Stil zu sehr zu brechen, und macht einem immer wieder bewusst, wie verloren die Figuren eigentlich sind. Dadurch ist man extrem nah bei den Charakteren und fühlt sich immer mit in die Situation hineinverstetzt. Viele der Gefühlsregungen, die Phillips durchlebt, werden auf den Zuschauer übertragen und man fühlt sich oft unwohl und aufs Höchste angespannt. Dabei nutzt der Film bzw. Regisseur Paul Greengrass so unglaublich simple Methoden, um Spannung zu erzeugen, dass man sich wundert, es nicht schon öfter so gut umgesetzt gesehen zu haben. Wenn sich zum Beispiel die Piraten dem Frachter annähern und immer zwischen den zwei Booten, also Phillips und Muse, hin- und hergeschnitten wird und sich dann die Blicke der beiden durchs Fernglas zum ersten Mal treffen, bekommt man einfach Gänsehaut. Und wenn Muse in Großaufnahme gezeigt wird und man von seinen gelblichen Augen durchbohrt wird, krallt man automatisch die Finger in seinen Sitz. Alles einfach, aber es funktioniert großartig. Der Spannungsbogen, sobald einmal aufgebaut, steigt immer drastischer, ohne größere Schwankungen, und wird am Ende gekonnt aufgelöst.

Und hier, in den letzten 20 Minuten, bekommt Tom Hanks auch seine Chance für den Oscar. Endlich fokussiert sich alles auf seine Performance, den Emotionen werden freien Lauf gelassen, sowohl auf als auch vor der Leinwand. Denn wenn die Geschichte sowie die Spannung schließlich gelöst werden, löst sich auch die Anspannung beim Zuschauer und erschöpft lässt man sich in seinen schweißdurchnässten Sitz zurücksinken. Der ganze Film nimmt einen emotional so sehr mit, dass man danach erst einmal eine Pause, Bier und Schokolade braucht. Jedenfalls ging es mir so und all dies meine ich nur positiv. Denn was ist denn der Sinn eines Films, wenn nicht große (vielleicht auch peinliche) Gefühle aus einem herauszulocken?

captain phillips muse

Hat man erst einmal verstanden und akzeptiert, dass Figuren und Plot für das Wohl des Gefühlsrausches des Zuschauers in den Hintergrund rücken, kann man sich fallen lassen und wird von der packenden Inszenierung auf ein heikles Abenteuer mitgerissen. Man fliegt förmlich vom einen intensiven Moment zum nächsten und kann sich nie sicher sein, was später passiert. Und genau dafür hätte der Film einen Oscar verdient: Wie er es schafft, dass man sich zu jeder Minute fragt, „Was kommt als nächstes? Wie zur Hölle soll er da bloß lebend herauskommen? Wie soll das hier nur weitergehen?“. Für geniale Spannungsbögen sollte es einen Oscar geben.

CAPTAIN PHILLIPS in der IMDb
CAPTAIN PHILLIPS auf Letterboxd

Trailer:

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