La vie d’Adèle, Chapitres 1 & 2 (2013)

CineCouch Kritik Jan

Ich schätze mal, damit hättet ihr nicht gerechnet: Da startet am Donnerstag (also bei Erscheinen dieses Textes heute) ein vielversprechender französischer Film in den deutschen Kinos und der Jan meint dann gleich wieder seinen Senf dazu geben zu müssen – ich will euch also nicht enttäuschen. Und ob LA VIE D’ADÈLE, CHAPITRES 1 & 2 eine Enttäuschung war oder die Erfüllung aller (Cineasten-)Träume, erfahrt ihr nach dem Klick.

Vorab sollte wohl gesagt werden, dass ich mit dem Film eine kleine Geschichte habe, die schon etwas länger zurückreicht als die Sichtung in der Preview vor Kurzem. Der Film gewann, wie es auf den Postern nicht gerade zurückhaltend prangt, die Goldene Palme in Cannes und damit den neben den Oscars wichtigsten Preis der Filmbranche. Auf dem Münchener Filmfest hatte ich dann eigentlich die Möglichkeit den Film zu sehen – und ließ sie für eine andere Pressevorstellung an mir vorbeiziehen. Seitdem bereue ich es, den Film nicht damals gesehen zu haben. Es folgten Trailer und Plakate. Die Erwartungen stiegen und stiegen – nicht gerade die besten Voraussetzungen für einen Film.

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© Wild Bunch

Nicht die besten Voraussetzungen, so lässt sich irgendwie auch das Leben von Adèle (gespielt von Newcomerin Adèle Exarchopoulos) zu Beginn beschreiben. Die 15-jährige Schülerin hat mit den normalen Problemen ihres Alters zu kämpfen. Da gibt es die Lehrer, die einen mal nerven, mal motivieren. Ihr Freundeskreis, der gerne tratscht und einfach eine schöne Zeit verbringen möchte. Und dann ist da noch die Liebe. Vor allem letztere setzt Adèle ganz schön zu. Als sie nämlich die auffällige Emma (Léa Seydoux) mit ihren blauen Haaren kennen lernt, erfährt Adèle eine ganz neue Art der Leidenschaft und Zuneigung.

Über die verschiedenen Titel des Films ließen sich mal wieder Bände füllen. Der eigentliche, weil originäre französische Titel fasst ganz gut die Grundstruktur und Narration des Films zusammen: LA VIE D’ADÈLE. Die Protagonistin steht voll und ganz im Fokus der Erzählung. Wir erleben ganz buchstäblich hautnah ganz bestimmte Aspekte ihres Lebens mit. Tatsächlich umfasst die Handlung mehrere Jahre. Doch lässt Regisseur Kechiche durch geschickt gesetzte Auslassungen und Ellipsen den Eindruck einer durchgehenden Handlung entstehen. Dabei bleibt die Kamera extrem nah an der Hauptdarstellerin. Gefühlt 95 Prozent der knapp drei Stunden Laufzeit starren wir als Zuschauer durch die Linse der Kamera auf das Gesicht von Adèle. Großaufnahmen ihres Gesichts, Detailaufnahmen ihrer Augen, ihres Munds (ähnlich wie bei JEUNE & JOLIE als Ausdruck von Sinnlichkeit) und vieler weiterer ihrer Körperpartien dominieren den Film. Trotz vieler Bewegungen fühlt sich das Geschehen dadurch eher statisch an, die Bewegungen verlaufen in der Unschärfe des Hintergrunds, während der Fokus immer auf der Protagonistin liegt. Auch wenn die Wahl dieser Einstellungen nicht jedem gefallen wird, sie ist doch ein außergewöhnliches Merkmal des Stils.

In den USA und unter anderem auch in Deutschland hat man sich jedoch mit den Titeln „Blue Is the Warmest Color“, bzw. „Blau ist eine warme Farbe“ auf ein anderes Element eingeschossen (und hält sich damit an die dem Film zu Grunde liegende Graphic Novel): Mit der immer wieder präsenten und wiederkehrenden Farbe Blau. Die ist nicht nur offensichtlich als ungewöhnliche und herausstechende Haarfarbe der interessanten Emma auffallend, sondern in ganz vielen Bereichen der bewegten Bilder. Und in der Tat versprüht die Farbe in dem Film immer eine gewisse Wärme und Geborgenheit und womöglich auch Sehnsucht, die – soviel sei verraten – bei Emma im Verlauf der Handlung nicht immer zu finden ist. Erst recht nicht, als sie sich ihre Haare nicht mehr färbt und das Naturblond zum Vorschein kommt.

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© Wild Bunch

Aber genug mit der Analyse von Filmtiteln. Die Aufmerksamkeit zieht der Film ohnehin weniger durch seine verschiedenen Verleihnamen auf sich als durch die Thematik. Ein Liebesdrama um ein lesbisches Pärchen ist sicherlich kein komplettes Neuland in der Film- und Fernsehwelt – wie deutlich Abdellatif Kechiche dabei aber mit dem Sujet hantiert, ist bemerkenswert. So dürfen sich die Kinobesucher auf einige minutenlange Sexszenen der beiden Hauptdarstellerinnen freuen, die teils sehr explizit sind – vom altbekannten US-amerikanischen Scham im Kino ist hier wahrlich nichts zu sehen. Dabei werden die Szenen nie exploitativ oder zu pornographisch. Sie passen einfach gut ins Bild der jungen und sich entwickelnden Liebe zwischen Adèle und Emma. Und bei der Laufzeit von 176 Minuten mal zehn Minuten für Auflockerung durch etwas stürmischere, erotische Szenen zu sorgen, ist sicherlich nicht ganz verkehrt.

LA VIE D’ADÈLE in Worten gebührend Ausdruck zu verleihen, ist eine schwierige Aufgabe. Auch dank seiner deutlichen Überlänge erlaubt sich Kechiche Einblicke, die sonstigen Coming-of-Age-Dramen verwehrt bleiben. Liebe, Zuversicht, Sehnsucht, aber auch Leid, Trauer und Kummer mit keiner Scheu vor „Hässlichkeit“, wenn das verheulte Gesicht der Hauptdarstellerin nur so von Tränen und Rotz überströmt ist – die Gefühlswelt der Protagonistin findet in jeder Situation ihren Platz. Der Film schafft allerdings etwas, was man wirklich nur einer sehr erlesenen Auswahl als Prädikat zuschreiben kann: Er erlaubt sich in dem, was er tun möchte, schlicht und ergreifend nicht einen Fehler. Die Darsteller sind in ihren jeweiligen Rollen perfekt besetzt, die Kamera und Tonarbeit ist stilistisch und artistisch wirklich eine Augen- und Ohrenweide. Der Regisseur verlangte von seinem gesamten Stab viel ab und es hat sich gelohnt. Man muss den Film sicherlich nicht lieben, aber wenn man sich auf ein ruhig erzähltes und sehr authentisches (Liebes-)Drama einer jungen Frau einlassen möchte, ist man bei LA VIE D’ADÈLE bestens aufgehoben. Prädikat: Einer der besten Filme dieses Jahres.

LA VIE D’ADÈLE in der IMDb
LA VIE D’ADÈLE auf Letterboxd

Trailer:

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