Im Jahre 2011 mischte Asghar Farhadi mit JODAEIYE NADER AZ SIMIN (zu deutsch: „Nader und Simin – eine Trennung“) die Kinowelt auf: Nie zuvor war ein iranischer Film auf eine so riesige Resonanz aus dem Ausland gestoßen, nie zuvor hatte ein iranischer Beitrag den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewonnen und nie zuvor waren auf der Berlinale alle drei Bären an ein einziges Werk verliehen worden.
Nun steht mit LE PASSÉ Farhadis französischsprachiger Nachfolger in den Startlöchern und es stellt sich die Frage, ob er mit dem grandiosen Vorgänger mithalten kann.
LE PASSÉ beginnt mit der Rückkehr des Iraners Ahmad (Ali Mosaffa) nach Frankreich ins Haus seiner Gattin Marie (Bérénice Bejo), mit der er in Trennung lebt. Das Haus bewohnt Marie mit ihren beiden Töchter aus erster Ehe und mit ihrem neuen Freund Samir (Tahar Ramin), dessen depressive Frau nach einem Selbstmordversuch im Koma liegt, sowie dessen Sohn. Der kurze Besuch soll für Ahmad eigentlich nur ein Termin zur Unterzeichnung der Scheidungspapiere und ein Wiedersehen mit den Kindern sein. Doch Maries älteste Tochter Lucie, zu der Ahmad noch immer ein gutes Verhältnis pflegt, ist unglücklich mit der neuen Beziehung ihrer Mutter. Marie bittet Ahmad, mit ihr zu sprechen und die Beweggründe für ihr schwieriges Verhalten herauszufinden. Die Folgen für alle Beteiligten werden verheerend sein.
Verrät man zu viel über den Inhalt, so ginge wohl einige Spannung an der schrittweisen Entfaltung des Geschehens verloren. Wie schon im vielfach preisgekrönten NADER UND SIMIN entwirft Farhadi ein äußerst realistisches Geflecht aus Beziehungen. Eine Zusammenfassung der Handlung fällt daher umso schwerer. Einerseits geht es um Lucies Verhalten. Andererseits um die Beziehung von Marie und Samir, ihre Kinder und auch um Ahmads Rolle als Stein des Anstoßes für die Veränderungen im Umfeld der Familie. Auch der Grund für den Selbstmordversuch von Samirs Gattin bleibt nicht unerwähnt. Durch die Dialoge entfalten sich diese Themen nach und nach, hinterlassen jedoch auch gegen Ende kein eindeutiges Bild. Denn auch wenn dem Zuschauer viele Details über das Vergangene offenbart werden, bleiben viele Deutungshypothesen möglich, gerade in Bezug auf die Schuld, die sich jeder einzelne aufgeladen hat.
LE PASSÉ schafft es, allen Figuren Verständnis entgegen zu bringen und macht so ihre Aussagen glaubwürdig. Manches Handeln wie auch einige Aussagen mögen moralisch verwerflich erscheinen, aus der subjektiven Sicht der jeweiligen Personen sind sie dennoch immer nachvollziehbar. So viel man insgesamt also auch über die Figuren, ihre Makel und ihre Beweggründe erfahren mag, so schwierig wird es, sie zu bewerten und einander gegenüber zu stellen.
Marie sagt an einem Punkt, einige Dinge könnten nicht einfach mit einer Entschuldigung aus der Welt geräumt werden. Und genau dieser Umstand ist wohl der interessanteste Aspekt des Films. Thematisiert wird die Schuld, das Verzeihen und der Umgang mit dem Vergangenen generell. Wenn ein Kind sich nicht benimmt, wird es genötigt, sich zu entschuldigen. Im späteren Leben reicht das oftmals nicht mehr aus. Doch wo beginnt dieser Punkt, an dem Entschuldigungen nicht mehr ausreichen, und woran erkennt man ihn? Und ist es besser, seine Schuld zu verheimlichen, um gar nicht erst in die Situation geraten zu müssen, um Verzeihung bitten zu müssen? Aber wie geht man dann mit seinem eigenen Gewissen um? Was bleibt, ist eine Wahl zwischen dem einen oder dem anderen Leid. LE PASSÉ schafft es, seine Fragestellungen schmerzhaft unaufgeregt zu verpacken und sich durch seine Vielschichtigkeit einer klaren Aussage zu verwehren. Außerdem bietet er weitaus mehr als eine Auseinandersetzung mit Schuld.
So ist das Haus, in dem ein Großteil des Films spielt, fast als ein weiterer Charakter zu werten, indem es als Metapher für die Patchwork-Familie um Marie und Samir fungiert. Ahmad kommt als Störenfried hinein, war aber auch zuvor immer ein Stück weit präsent durch einige zurückgelassene Besitztümer. Samir versucht diesen Einfluss zu minimieren, das Haus zu renovieren und neu einzurichten. Sein kleiner Sohn Fouad fühlt sich unwohl, will anfangs zurück nach Paris, wo er vorher mit seinen Eltern wohnte. Symbolisiert wird sein Gefühl, fehl am Platze zu sein, durch seinen sich ständig verändernden Schlafplatz. Er wird gar im Haus eingeschlossen und kann auch mit seinen Tritten gegen die Tür nichts gegen seine Situation ausrichten.
Asghar Farhadi inszeniert LE PASSÉ erwartungsgemäß zurückhaltend. Er erlaubt sich kaum außergewöhnliche Kameraperspektiven oder Montagen, um den Fokus nicht von seinen Figuren fortzulenken. Dies erinnert wiederum nicht nur an Farhadis vorangegangenes Werk NADER UND SIMIN, dessen bildtechnisch erinnerungswürdigste Sequenz wie auch hier das Ende ist, sondern auch beispielsweise an den nüchternen Tonfall Thomas Vinterbergs, der mit JAGTEN zuletzt eine ebenfalls aufrüttelnde Geschichte voller nachvollziehbarer Charaktere erzählte. Den einzigen legitimen Vorwurf, den man Farhadi machen kann, ist, dass er von seinem Erfolgsrezept kaum abweicht und mit LE PASSÉ nicht ganz die emotionale Intensität der anderen beiden genannten Filme erreicht. Eine nicht erfolgte Nominierung für den diesjährigen Auslands-Oscar hätte er dennoch verdient gehabt.