Eine eigene Tour-Dokumentation gehört für größere Bands mittlerweile annähernd zum guten Ton. Insofern ist es erst einmal nicht verwunderlich, dass auch die US-Indie-Rocker „The National“ planten, ihre Tour festhalten zu lassen. Ein paar Interviews, einige Konzertmitschnitte, Städtepanoramen und harmlose Outtakes. Doch wer mit solchen Erwartungen an MISTAKEN FOR STRANGERS herangeht, dürfte mehr als überrascht sein, denn die Dokumentation geht weit über derartige Standards hinaus.
Der Clou ist, dass der Film von Regisseur Tom Berninger ein Zufallsprodukt darstellt. 2010 veröffentlichen „The National“ ihr Album „High Violet“, infolge dessen sie den Durchbruch schaffen und für 22 Monate auf Tour um die Welt aufbrechen. Frontsänger Matt Berninger engagiert kurzerhand seinen neun Jahre jüngeren Bruder Tom als Assistenten des Tourmanagers bzw. Roadie. Quasi nebenbei entsteht der Plan, dass dieser die Band derweil filmisch porträtieren könnte. Das Handwerk hatte er durch ein Filmstudium und das Drehen verschiedener Horror-Kurzfilme gelernt. Beruflich sieht es bei ihm zu diesem Zeitpunkt allerdings wenig rosig aus: Er lebt noch zuhause bei den Eltern, hat keinen festen Job und wenig Ambitionen. Die Möglichkeit, seinen Bruder zu begleiten, stellt mehr einen Gefallen Matts als einen praktischen Nutzen für die Band dar, zumal Tom als Metalhead mit Indie-Rock herzlich wenig anfangen kann.
Gerade zu Beginn des Films schwankt man teils zwischen Belustigung und Fassungslosigkeit, wie sorglos Tom seinen Alltag und auch seine Tätigkeit auf der Tournee bestreitet. Einmal versichert er dem entnervten Tourmanager, seine Aufgaben erledigt zu haben, um dann in der nächsten Szene hektisch zu versuchen, genau diese Dinge noch zu regeln. Ein anderes Mal liegt er angezogen mit einem Schwimmring im Swimmingpool und brüllt nach dem Nachbarn, den er für Moby hält. Bei Interviews der Band erscheint er ausschließlich unvorbereitet. Kein Wunder, dass es in der Presselandschaft obligatorisch zu sein scheint, Vergleiche mit der legendären Mockumentary THIS IS SPINAL TAP um eine fiktive Rockband anzustellen.
Schnell jedoch stellt man fest, dass man es bei MISTAKEN FOR STRANGERS mit einem weitaus intimeren und ernsthafteren Film zu tun hat. Der Titel ist einem „The National“-Song gleichen Namens entliehen, bezieht sich aber gleichermaßen auf die beiden ungleichen Brüder, die man für Fremde halten müsste, wenn man es nicht besser wüsste. Auf der einen Seite der große, schlanke und erfolgreiche Matt mit seiner zurückhaltenden Eleganz, auf der anderen Seite der kleine, korpulentere und erfolglose Tom mit seiner kindlichen Freude und Sorglosigkeit.
Als Zuschauer ist man nicht der einzige, der diese Unterschiede registriert. Auch die beiden Brüder bemerken ihre Andersartigkeit und reagieren darauf sehr unterschiedlich: Der große Bruder und Sänger Matt versucht sich um Tom zu kümmern, ihm einzuimpfen, endlich erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig scheint er ein wenig auf ihn herabzublicken. Tom wiederum beginnt seinem Bruder um seinen Erfolg zu beneiden und zweifelt zunehmend an sich selbst: Wie können sich die Lebenswege zweier Menschen mit vermeintlich gleichen Voraussetzung und Chancen so sehr unterscheiden? Wo liegt Toms Fehler begraben? Diese Fragen prägen sein Handeln. Die anderen vier Bandmitglieder, übrigens zwei Brüderpaare, befragt er fast ausschließlich nach Matt und versucht, diesen bei ihnen in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. Auch die eigenen Eltern tragen ihre Ansichten bei. So wandelt sich das Bild von Tom Berninger langsam von komisch zu tragisch, man spürt Mitleid und fragt sich selbst, warum der „talentiertere der beiden Brüder“ (O-Ton Mama Berninger) seine Anlagen nicht nutzen konnte.
Die zunehmenden Spannungen und die mangelhafte Arbeitsmoral führen letztlich dazu, dass Tom von der Tour gefeuert wird. Weiterhin schafft er es nicht, aus den rund 200 Stunden Filmmaterial einen fertigen Film entstehen zu lassen. Was er auch tut, ständig steht sich der deprimierte Tom selbst im Weg. Den Wendepunkt des Films besorgt eine Szene, in der Tom gegenüber Matt seine Probleme und dessen Glück anspricht. In seiner Reaktion wird deutlich, dass auch ihm Niederlagen und Gefühle des Versagens nicht unbekannt sind. Matts Lösung für seine frühere Erfolglosigkeit war, Teile seiner Persönlichkeit in sein Schaffen einzubringen. Das Konzept zur Vollendung des Films ist geboren.
MISTAKEN FOR STRANGERS ist in seiner Emotionalität, Ehrlichkeit und seinem Witz eine filmische Ausnahmeerscheinung. Er zeigt uns eine inspirierende kleine Heldengeschichte über einen vermeintlichen Versager, der sich seine Fehler eingesteht und hartnäckig arbeitet, weil er etwas Gutes erschaffen möchte. Der Film schlägt einen Bogen von der heiteren Rock-Doku, zum schmerzhaft offenen Bruder- und vor allem Selbstporträt. So macht er deutlich, wie vorschnell wir über einen Menschen urteilen. Denn wir nehmen uns im Gegensatz zu Berningers Dokumentation nach einer anfänglichen oberflächlichen Betrachtung meist nicht die Zeit, anschließend ein immer genaueres und tiefgründigeres Bild zu zeichnen. Wer hätte zu Beginn des Films diesem sympathischen aber leicht einfältig wirkenden Horror- und Metal-Nerd eine solch facettenreiche Großtat zugetraut? Ich nicht, das gebe ich offen zu. Dafür wurde ich letztendlich mit einer der wohl besten Dokumentationen des Jahres belohnt. Sie kulminiert in einem perfekten Abschluss, einem letzten Auftritt von „The National“, bei dem man einmal mehr von deren vollkommen zu Recht Grammy-prämierter Musik berührt wird und in dem Tom seinem Bruder dessen tatkräftige Unterstützung symbolisch zurückgeben kann.